|   Kommentar

Splitter und Balken spalten die Gesellschaft

von Markus Springer

Der laufende US-Wahlkampf beweist es, und auch bei uns ist es mit Händen zu greifen: Die gesellschaftliche Spaltung in den westlichen Demokratien geht immer tiefer. Zugleich lautet der Befund: So viel Moral wie heute war selten.

Stets geht es ums Ganze: bei der Migration und bei Flüchtlingsfragen, bei der Seenotrettung, beim Rassismus, beim Gendern, beim Klima. Die Algorithmen der Social Media von Twitter bis „TikTok“ haben sich als Brandbeschleuniger erwiesen. Sie belohnen die Zuspitzung, starke Erregung und leidenschaftliche Gefühle, weil sie die Menschen so an den Geräten und in den Diskussionen halten – um ihnen gezielt Werbung zu servieren.

Weil auch die analoge, die „reale“ Welt schon längst digital-medial bestimmt wird, bedeutet das in der Summe einen Klimawandel der Diskurse: Für Kompromisse und abweichende Meinungen ist immer weniger Platz.

Eine Studie der renommierten Cornell-Universität in den USA liefert dazu nun eine wissenschaftliche Erkenntnis, die die Vertreter der hohen Moral nachdenklich stimmen sollte: Wer sich für besonders moralisch hält, ist meistens auch ein selbstgewisser Rechthaber, fanden die Psychologin Qi Wang und ihre Kollegen heraus. Gerade diejenigen, die viel über Vorurteile, geistige Scheuklappen, Verblendungen und Irrtümer wissen, neigen dazu, sich selbst für gefeit zu halten vor Vorurteilen, geistigen Scheuklappen, Verblendungen und Irrtümern. Das bestätigt eine ­Ahnung: Linke Identitätspolitik und grüner Rigorismus tragen („unmoralisch“ gesprochen) faktisch ebenso zur gesellschaftlichen Spaltung bei wie die (tatsächlich unmoralisch-üblen) politischen Projekte vom ­rechten oder neoliberalen Rand.

Dazu kommt: Auch moralische Machtansprüche führen meist auf die schiefe Bahn. Warum? Weil der gute Zweck, das hohe angestrebte Gut, allzu leicht auch verwerfliche Mittel heiligt. Es fängt klein an und kann, wie die Geschichte wieder und wieder gezeigt hat, in Terror und Tyrannei enden. Das menschliche Grundproblem war Jesus sehr bewusst: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ (Matthäus 7, 4).

Die Größe des sichttrübenden Holzes spielt letztlich keine Rolle. Entscheidend ist die Einsicht: Ich bin nicht weniger irrtumsgefährdet und irrtumsbehaftet als mein Gegenüber. Von diesem skeptischen „Wir“ aus können sich Menschen gemeinsam in die Zukunft vortasten. Denn überall dort, wo politische Machtansprüche sich mit moralischer Wahrheitsbehauptung paaren, wird es für die Demokratie gefährlich, erkannte der Philosoph Karl Popper (1902 bis 1994): „Der Versuch, den Himmel zu errichten, erzeugt stets die Hölle. Dieser Versuch führt zu Intoleranz, zu religiösen Kriegen und zur Rettung der Seelen durch die Inquisition.“ Nicht nur Christen sollten das wissen.

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Markus Springer
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